Mein zweiter Tag in der anderen Welt

Heute, am Dienstag, der 05.06.2007, trat ich meinen zweiten „Arbeitstag“ als Cartonero an. Wie schon gestern wartete ich an der Straßenkreuzung vor dem Projekt „Che Pibe“, diesmal aber ganz alleine. Als der Lastwagen kam, konnte ich schon weit oben auf der Seitenwand sitzend Chucky erkennen. Also fasste ich all meinen Mut zusammen und versucht so zu wirken als wäre es das normalste der Welt, dass ich zu dem Cartoneros auf dem Lastwagen steige. Oben angekommen, suchte ich so schnell wie möglich die Nähe zu Chucky, um mich wenigstens etwas besser zu fühlen.
Aber trotzdem empfinde ich dasselbe wie gestern: ein komisches, schlechtes oder besser gesagt beschissenes Gefühl. „Das hier ist einfach nicht der Ort, wo ich sein sollte“, dachte ich mir. Ich bin hier der reiche Deutsche unter wirklich armen Argentinier aus Villa Fiorito. „Es ist eben unmöglich die Armut vorzutäuschen“, dachte ich mir. Obwohl ich mich hier gerade in derselben Situation, wie die anderen Cartoneros befinde, weiß ich, dass ich Deutscher bin, dass ich jederzeit nach Deutschland zurückkehren kann und dass ich im Vergleich zu diesen Leuten einfach nur steinreich bin.

Heute war ich schon etwas bekannter auf den Laster und ich wurde teilweise mit einem freudigen Hallo oder Zuwinken begrüßt. Als wir in das Capital eindrangen und wieder die Welt des Reichtums und die Welt der Armen aufeinander trafen, empfand ich ein minimal größeres Zugehörigkeitsgefühl. Denn nun gehörte ich eindeutig zu der ärmeren Bevölkerungsschicht, ich befand mich zumindest auf ihren Laster.
Wie mir Chucky erklärte, schlagen wir heute einen etwas anderen Weg als gestern ein, da es viel mehr Verkehr gibt. Wir fuhren durch eine Alleestraße und alle Leute auf den Seitenwänden mussten sich ducken, um den gefährlich nah kommenden Baumästen auszuweichen. Von dort oben, wurden den Frauen auf den Straßen laut nach gepfiffen und auch schon mal der ein oder andere dumme Kommentar losgelassen. Andere hingegen bevorzugten es lieber mit ihrem mobilen Radio das aktuelle Fußballspiel mitzuhören und immer wieder den Anderen ein leises „gol“ mitzuteilen, wenn ein Tor gefallen war.

Heute fing der Arbeitstag eher ruhig an. An der Stelle, wo wir gestern noch sechs große, schwarze Müllbeutel abholten, fanden wir heute nur zwei vor. Irgendwie ist es logisch, dass man am Montag mehr Müll findet, da es am Sonntag keine Müllabfuhr gibt, erklärte ich mir diese Tatsache. Allgemein mussten wir heute von 18.00 Uhr bis 20.00 Uhr viel längere Wege als gestern zurücklegen, da viele noch nicht ihren Müll herausgestellt hatten, beziehungsweise es nicht so viele Müllbeutel wie gestern gegeben hat. Und außerdem gibt es auch massenweise „Konkurrenz“. Ich habe viele andere Cartoneros gesehen und vor allem viele Müllbeutel, die bereits durchsucht wurden. „Müllbeutel, die gerade von anderen Cartoneros durchsucht werden, darf ich nicht anlangen“, erklärte mir Chucky diesen Ehrenkodex der Cartoneros.
Aufgrund dieses „Arbeitsmangels“ spendierte Chucky mir zwei Runden alfajores (argentinisches Gebäck) und man hat auch schon mal die Zeit, um ein kurzes Gespräch mit anderen Cartoneros aus Villa Fiorito, die hier ebenfalls arbeiten, zu halten.
Um 20.00 Uhr begaben wir uns aber in die Straße, wo Chucky immer Müll sammelt und wo normalerweise keine anderen cartoneros sind. Langsam begannen die Leute nach und nach den Müll herauszuholen und somit hatten wir wieder viel zu tun. Am Ende schafften wir es zumindest einen großen Korb mit wieder verwendbarem Müll zu füllen. „Manchmal schaffe ich es alle zwei Beutel (so wie gestern) zu füllen. An schlechteren Tagen bringe ich aber auch nur einen Beutel mit nach Hause“, erklärte mir Chucky.

Am Ende des Tages erzählte mir Chucky, was man für ein Kilo eines bestimmten Materials bekommt. Hier einige Auflistungen

  • Kupfer – 16 Peso (4 €)
  • Aluminium – 5 Peso (1,25 €)
  • Blei – 3,60 Peso (0,90 €)
  • Weißes Plastik – 1 Peso (0,25 €)
  • Weißes Papier – 0,72 Peso (0,18 €)
  • Grünes Plastik – 0,40 Peso (0,10 €)
  • Karton – 0,27 Peso (0,07 €)
  • Glas – 0,10 Peso (0,03 €)

Nachdem Chucky die 40 Peso Gebühr für die Mitnahme im Laster bezahlt hat, bleiben ihm ungefähr jede Woche noch 150 Peso (37,50 €) übrig, erzählte er mir.

Heute ist mir positiv aufgefallen, dass es auch einige Leute gibt, die den Cartoneros helfen. Zum Beispiel gab uns ein Straßenreiniger alle Plastik- und Glasflaschen aus einem öffentlichen Mülleimer, was ich wirklich sehr nett fand. Auch brauchte uns heute eine Frau einen riesigen Karton voller Zeitungen, den sie extra gesammelt hat. Solche Gesten gegenüber Cartoneros zeigen zumindest etwas Respekt vor ihrer Tätigkeit und diese halte ich für angebrachter, als böse Zurufe, dass man doch woanders Müll sammeln soll.

Eine Antwort zu “Mein zweiter Tag in der anderen Welt”

  1. Manuela Wagner sagt:

    Typisch unser Patrick!!

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