Archiv für den Monat Juni 2007

Dritter Erfahrungsbericht

Montag, 18. Juni 2007

Hier kann man meinen dritten Erfahrungsbericht herunterladen.
Zuerst einmal möchte ich mich für die längere Funkstille entschuldigen. Dafür habe ich in meiner mehrtägigen Arbeitsphase einen durchaus sehr informativen Bericht über die Monate Januar, Februar und März meines Freiwilligen Sozialen Jahres in Buenos Aires schreiben können. Auf 37 Seiten beinhaltet dieser folgende Themen:

  • Arbeitsphase in der colonia (Sommerferienbetreuung) des Casa del niños (Kinderhaus)
  • Meine erste große Reise
  • Zwischentreffen aller südamerikanischen wise e.V. Freiwilligen in Cochabamba, Bolivien
  • Projektbesuch von Pablo Schickinger und Cordula Müller (Vorstande von wise e.V.)

Man sollte sich aufgrund der Seitenzahl nicht abschrecken lassen, da es durch die strukturierte Gliederung möglich ist, nur einzelne Teile (zum Beispiel über meine Arbeit) zu lesen. Auch muss ich erwähnen, dass der Bericht über meine Reise sehr ausführlich ist, was an meinem Hang zur Geographie und Fotografie liegt.

Wer Fragen hat, oder weitere Informationen bezüglich meines Freiwilligen Sozialen Jahres in Buenos Aires erhalten möchte, kann mir eine Email an patrick.wagner (at) wi-ev.de schicken.
Ich freue mich über Fragen, Anregungen, Lob und Kritik.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Zeit beim Lesen.

Der Vierte Tag…

Freitag, 08. Juni 2007

… als Cartonero ist ausgefallen, da sich Chucky gestern beim Müllsammeln am Bein verletzte und sich die Wunde heute verschlechtert hat. Über diese Tatsache war ich mehr als glücklich, da mir die Arbeit logischerweise nicht sehr viel Spaß bereitet. Vielmehr möchte ich niemanden wünschen einmal als Cartonero arbeiten zu müssen, denn es ist wirklich ein menschenunwürdiger Beruf.

Morgen werde Chucky und ich zum Letzten Mal zusammen losziehen. Ich habe noch vor ein kleines Interview mit ihm zu führen und einige Bilder zu schießen, damit man sich ein besseres Bild machen kann.

Heute kann ich schon einmal ein Foto des alten Mercedeslastwagen „Los Mochos“ zeigen, mit dem ich nun schon drei Mal ins Capital gefahren bin. Darauf kann man die Cartoneros, sowie die Karren, mit denen der Müll transportiert wird, sehen. Die ganze Szene befindet sich an der Straßenkreuzung direkt neben dem Projekt Che Pibe.

Für mich war es eine schwere Gewissensfrage so ein Foto ins Internet zu stellen. Denn eigentlich habe ich große Probleme ein Bild, welches Armut zeigt, zu machen und zu veröffentlichen. Allerdings habe ich vorher die Cartoneros, sowie den Lastwagenfahrer um Erlaubnis gebeten, damit zumindest ein kleiner Teil meines schlechten Gewissens befriedigt wird. Außerdem versuche ich auch die Leute in Deutschland für dieses Thema zu sensibilisieren und erhoffe mir, dass ich somit ein etwas größeres Augenmerk auf die Armut in Südamerika richten kann.

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Der dritte Tag

Donnerstag, 07. Juni 2007

Heute ging es wieder auf ein Neues los, nur dass ich nicht wirklich Lust hatte, einen weiteren Tag als Cartonero zu verbringen. „Wenn ich jetzt nur wie gewohnt nach Hause fahren könnte, das wäre etwas“, dachte ich vor mir her. Dennoch besitze ich einen eisernen Willen, wenn ich mir etwas vorgenommen habe. Und mit Chucky ist eben ausgemacht, dass ich ihn eine Woche begleiten werde. Und was ich versprochen habe, das halte ich auch ein.
Am Anfang verspürte ich noch eine große Neugierde, wollte ein kleines Abenteuer erleben, aber vor allem neue Eindrücke und Erfahrungen sammeln. Aber nun stellte sich so langsam die Routine ein, bereits nach zwei Tagen. Dieser Art der Arbeit ist einfach nur hässlich.

Desto mehr freute ich mich, als mir ein freudiges, auf schlechtes Englisch gesprochenes „Hallo, how are you“ vom Laster entgegenkamen und ich einigen Jugendlichen die Hand schütteln musste. Mit den Zurufen „ey, aleman“ winkte mir Mario, ein Jugendlicher den ich vom cine taller (Kinoworkshop) kenne, vom Hinteren Teil des Lasters zu. Spätestens jetzt kennt mich der ganze Laster, dachte ich mir nur und suchte wieder die Nähe zu Chucky.
Dieser saß aber auf den hohen Seitenwänden des Lasters, weswegen ich beschloss mich zu ihm zu gesellen. Bei den eigentlichen Cartoneros sieht das immer ziemlich lässig und einfach aus, wie sie da oben auf den Seitenwänden des Lasters herumbaumeln; allerdings machen sie das ja auch fünf Tage in der Woche. Ich hingegen verkrampfte mich total und klammerte mich an das kühle Eisengestell fest und versuchte möglichst nicht herunterzufallen. Und das war dann auch das einzige was ich die ganze Fahrt über getan habe. Als wir endlich ankamen, tat mir mein Hintern ziemlich weh. Wie die eigentlichen Cartoneros das machen, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Meine Theorie von gestern hat sich als wahr herausgestellt. Heute mussten wir ebenfalls große Wege zurücklegen, um überhaupt nicht durchsuchte Müllbeutel zu finden. Außerdem gibt es ja noch viele andere Cartoneros. Am Ende gingen wir wieder zu der Stammstraße von Chucky, wo wir darauf warteten bis die Leute nach und nach ihre Müllbeutel herausstellten. Endlich konnten wir unseren viertel vollen Beutel bis obenhin mit Verwertbaren füllen. Als wir dann zurück zum Lastwagen fuhren, war ich mehr als glücklich, wieder einen Tag als Cartonero überstanden zu haben.

Was ich heute sehr überraschend fand, dass uns ein Polizist zu einer Farmacia (Apotheke) geführt hat, von der wir daraufhin eine größere Menge an Karton erhalten haben. Das liegt daran, da im Januar des Jahres 2003 das Ley 992 (Gesetz 992) verabschiedet wurde. Die wichtigsten Punkte dieses Gesetzes sind folgende:

  • Den Cartoneros ist es erlaubt recycelbares Material in den Straßen zu sammeln
  • Es darf kleine und mittelgroße Firmen geben, die mit dieser Aktivität zusammenarbeiten
  • Die Cartoneros dürfen sich in Gruppierungen vereinen

Dank dieses Gesetzes haben die Cartonero nun mehr Rechte und letztes Jahr fand sogar der „1 º Congreso Nacional de Cartoneros“ (der erste nationale Kongress der Cartoneros) in Mar del Plata statt, wo verschiedene Vorträge und Workshops rund um das Thema Cartonero angeboten wurden.
Aber den Cartonero ist es auch möglich sich offiziell in Gruppierung, wie der „Movimiento Nacional de Trabajadores Cartoneros y Recicladores „ (nationalen Bewegung von Cartoneros und Recyclern) zu vereinigen. Somit können sie für mehr Rechte kämpfen.

Allerdings ist erst seit der großen Wirtschaftskrise im Jahr 2001 eine derart hohe Quantitäten von Cartoneros in Buenos Aires aufgetreten, so dass die Straßen von diesen überschwemmt wurden. Bereits am Ende des Jahres reichte man als Reaktion den Gesetzesentwurf für das Ley 992 ein.
Heute arbeiten, laut einer UNICEF Argentina Studie aus dem Jahr 2005, 8.762 cartoneros in den Straßen von Buenos Aires. Etwa 39% davon sollen Einwanderer sein und fast die Hälfte der Müllsammler sind Kinder und Jugendliche. Die wirkliche Zahl schätze ich aber weit aus größer ein.

Mein zweiter Tag in der anderen Welt

Mittwoch, 06. Juni 2007

Heute, am Dienstag, der 05.06.2007, trat ich meinen zweiten „Arbeitstag“ als Cartonero an. Wie schon gestern wartete ich an der Straßenkreuzung vor dem Projekt „Che Pibe“, diesmal aber ganz alleine. Als der Lastwagen kam, konnte ich schon weit oben auf der Seitenwand sitzend Chucky erkennen. Also fasste ich all meinen Mut zusammen und versucht so zu wirken als wäre es das normalste der Welt, dass ich zu dem Cartoneros auf dem Lastwagen steige. Oben angekommen, suchte ich so schnell wie möglich die Nähe zu Chucky, um mich wenigstens etwas besser zu fühlen.
Aber trotzdem empfinde ich dasselbe wie gestern: ein komisches, schlechtes oder besser gesagt beschissenes Gefühl. „Das hier ist einfach nicht der Ort, wo ich sein sollte“, dachte ich mir. Ich bin hier der reiche Deutsche unter wirklich armen Argentinier aus Villa Fiorito. „Es ist eben unmöglich die Armut vorzutäuschen“, dachte ich mir. Obwohl ich mich hier gerade in derselben Situation, wie die anderen Cartoneros befinde, weiß ich, dass ich Deutscher bin, dass ich jederzeit nach Deutschland zurückkehren kann und dass ich im Vergleich zu diesen Leuten einfach nur steinreich bin.

Heute war ich schon etwas bekannter auf den Laster und ich wurde teilweise mit einem freudigen Hallo oder Zuwinken begrüßt. Als wir in das Capital eindrangen und wieder die Welt des Reichtums und die Welt der Armen aufeinander trafen, empfand ich ein minimal größeres Zugehörigkeitsgefühl. Denn nun gehörte ich eindeutig zu der ärmeren Bevölkerungsschicht, ich befand mich zumindest auf ihren Laster.
Wie mir Chucky erklärte, schlagen wir heute einen etwas anderen Weg als gestern ein, da es viel mehr Verkehr gibt. Wir fuhren durch eine Alleestraße und alle Leute auf den Seitenwänden mussten sich ducken, um den gefährlich nah kommenden Baumästen auszuweichen. Von dort oben, wurden den Frauen auf den Straßen laut nach gepfiffen und auch schon mal der ein oder andere dumme Kommentar losgelassen. Andere hingegen bevorzugten es lieber mit ihrem mobilen Radio das aktuelle Fußballspiel mitzuhören und immer wieder den Anderen ein leises „gol“ mitzuteilen, wenn ein Tor gefallen war.

Heute fing der Arbeitstag eher ruhig an. An der Stelle, wo wir gestern noch sechs große, schwarze Müllbeutel abholten, fanden wir heute nur zwei vor. Irgendwie ist es logisch, dass man am Montag mehr Müll findet, da es am Sonntag keine Müllabfuhr gibt, erklärte ich mir diese Tatsache. Allgemein mussten wir heute von 18.00 Uhr bis 20.00 Uhr viel längere Wege als gestern zurücklegen, da viele noch nicht ihren Müll herausgestellt hatten, beziehungsweise es nicht so viele Müllbeutel wie gestern gegeben hat. Und außerdem gibt es auch massenweise „Konkurrenz“. Ich habe viele andere Cartoneros gesehen und vor allem viele Müllbeutel, die bereits durchsucht wurden. „Müllbeutel, die gerade von anderen Cartoneros durchsucht werden, darf ich nicht anlangen“, erklärte mir Chucky diesen Ehrenkodex der Cartoneros.
Aufgrund dieses „Arbeitsmangels“ spendierte Chucky mir zwei Runden alfajores (argentinisches Gebäck) und man hat auch schon mal die Zeit, um ein kurzes Gespräch mit anderen Cartoneros aus Villa Fiorito, die hier ebenfalls arbeiten, zu halten.
Um 20.00 Uhr begaben wir uns aber in die Straße, wo Chucky immer Müll sammelt und wo normalerweise keine anderen cartoneros sind. Langsam begannen die Leute nach und nach den Müll herauszuholen und somit hatten wir wieder viel zu tun. Am Ende schafften wir es zumindest einen großen Korb mit wieder verwendbarem Müll zu füllen. „Manchmal schaffe ich es alle zwei Beutel (so wie gestern) zu füllen. An schlechteren Tagen bringe ich aber auch nur einen Beutel mit nach Hause“, erklärte mir Chucky.

Am Ende des Tages erzählte mir Chucky, was man für ein Kilo eines bestimmten Materials bekommt. Hier einige Auflistungen

  • Kupfer – 16 Peso (4 €)
  • Aluminium – 5 Peso (1,25 €)
  • Blei – 3,60 Peso (0,90 €)
  • Weißes Plastik – 1 Peso (0,25 €)
  • Weißes Papier – 0,72 Peso (0,18 €)
  • Grünes Plastik – 0,40 Peso (0,10 €)
  • Karton – 0,27 Peso (0,07 €)
  • Glas – 0,10 Peso (0,03 €)

Nachdem Chucky die 40 Peso Gebühr für die Mitnahme im Laster bezahlt hat, bleiben ihm ungefähr jede Woche noch 150 Peso (37,50 €) übrig, erzählte er mir.

Heute ist mir positiv aufgefallen, dass es auch einige Leute gibt, die den Cartoneros helfen. Zum Beispiel gab uns ein Straßenreiniger alle Plastik- und Glasflaschen aus einem öffentlichen Mülleimer, was ich wirklich sehr nett fand. Auch brauchte uns heute eine Frau einen riesigen Karton voller Zeitungen, den sie extra gesammelt hat. Solche Gesten gegenüber Cartoneros zeigen zumindest etwas Respekt vor ihrer Tätigkeit und diese halte ich für angebrachter, als böse Zurufe, dass man doch woanders Müll sammeln soll.

Mein erster Tag in einer anderen Welt: die Arbeit eines Cartoneros

Dienstag, 05. Juni 2007

An diesem Montag, der 04.06.2007, ging ich nicht wie gewohnt nach der Arbeit im Villa Fiorito nach Hause. Ich setzte mich an die dem Projekt gegenüberliegende Straßenseite und wartete auf meine ungewöhnliche Verabredung.

Denn heute werde ich mich an dieser Kreuzung mit Chucky treffen. Chucky ist eines meiner Projektkinder im casa de joven (Jugendhaus) von Che Pibe. Er ist 16 Jahre alt, hat erst letztes Jahr die fünfstufige Primaria (erste Schulstufe in Argentinien) abgeschlossen und besucht nun die Secundaria (letzte, siebenstufige Schulstufe in Argentinien). Auf mich macht er einen sehr vernünftigen Eindruck, er ist clever und hat eigene Vorstellungen für seine Zukunft: ich will mit meiner Freundin zusammenziehen und mein eigenes Zimmer mit allem was man braucht ausstatten.
Um sich diesen Traum zu verwirklichen, wird Chucky noch viel Geld sparen müssen. Denn das Arbeitsangebot ist, in so einem marginalisierten Armutsviertel, wie es Villa Fiorito darstellt, nicht besonders groß. Deswegen arbeiten viele Jungen und Alten in einem Sektor, der in Deutschland völlig unbekannt ist: sie sind cartoneros.

Da es in Argentinien kein Recyclingsystem gibt, werden Papier, Plastik, Karton und Glas zusammen in den Abfall geschmissen. Und genau diese kostbaren, wieder verwertbaren Rohstoffe sammeln die Cartoneros im Müll des Capital Federal von Buenos Aires, um es dann später verkaufen zu können. Sozusagen, tröpfeln einige Pesos von dem Müll der Reichen in die Hände des Armenheeres, das um die Großstadt herum in Ghettos lebt.
Und auch Chucky verdient sich sein tägliches Brot mit dieser Form des Arbeitens. Aber eigentlich könnte man annehmen, dass Chucky ein ganz normaler Junge ist, der in die Schule geht und lediglich seine Jugend genießen will. Als er die Straße hinaufgelaufen kam, erkannt ich ihn schon von weiten an seiner Kleidung: seine Baseballcap tief ins Gesicht gezogen, weite lässige Jeans und dazu trug er ein Nike T-Shirt. Nur die Umgebung um ihm herum, trügte das Bild des ganz normalen Jungen: alles im Viertel Fiorito ist voller Müll, die Häuser an der Erdstraße sind in einem sehr schlechten Zustand und vor diesen läuft die Kloake durch schmalen Rinnen ab.

„Gleich geht’s los. Ich habe den Karren schon auf den LKW geladen.“, begrüßte er mich mit einen freundlichen Handschlag. Kurze Zeit später hörte man schon den alten Diesellastwagen von weitem herankommen. „Los Mochos“ heißt er, erklärte mir Chucky. Dann konnte ich ihn auch sehen: es waren circa dreißig andere Cartoneros darauf. Viele saßen weit über der Straße, auf den Seitenwänden der Ladefläche des LKWs.
Irgendwie hatte ich bei den Gedanken, auf diesen LKW mitzufahren, kein sehr gutes Gefühl. Aber ich hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn Chucky drängte mich schon dazu aufzusteigen. Als ich endlich oben war, verschwand dieses Gefühl einfach nicht. Ich dachte mir, das ist nicht meine Welt und schaute mich um: ein zwölfjähriges Mädchen, ein kleiner achtjähriger Junge mit seinem Vater, ein junges Liebespaar, das sich vor den Wind schützend eng zusammen kuschelte, ein alter Mann mit schiefen, schwarzen Zähnen und viele andere junge Leute. Und mittendrin ein Bamberger, der im Vergleich zu diesen Leuten wohl steinreich sein muss. „Hier gehöre ich nicht her, das ist nicht meine Welt“, dachte ich mir wieder, wurde aber schon gleich darauf von dem zwölfjährigen Mädchen angesprochen.

Nun ging die fünfzigminütige Fahrt durch das Ghetto auf kaputten Straßen, vorbei an Müllhaufen und Blechbaracken, in die Richtung des Capital los. Dort angekommen trafen zwei Welten aufeinander: auf den Straßen fuhren schicke Autos, auf den Gehsteigen liefen Männer in Anzügen und die riesigen, modernen Gebäude warfen ihre langen Schatten auf den Lastwagen der Cartoneros. Irgendwie schon ein komisches Gefühl all diesen Reichtum zu sehen, wenn man sich unter Armen befindet. „Was denken sie, wie fühlen sie sich?“, fragte ich mich immer und immer wieder.
Endlich waren wir am Ziel. Wir stiegen ab, luden den Karren mit zwei großen Säcken (jeweils ein Kubikmeter Inhalt) vom großen LKW und dann ging es auch schon los. Aufgrund der Größe des Karrens mussten wir immer am Straßenrand laufen, was extrem gefährlich beim starken Verkehr in Buenos Aires ist. Oft kommt es vor, dass die Autos am Karren und auch an Chucky in einem sehr geringen Abstand vorbeifahren.

Chucky erklärt mir, dass wir jetzt seine normale Route ablaufen. Die Leute hier kennen mich schon und halten den Müll für mich bereit, erklärte er mir. An der ersten Straßenecke warteten auch schon die ersten schwarzen Müllbeutel darauf geöffnet zu werden. Zuerst schaut ich Chucky zu und ließ mir erklären, was alles verwertbar sei: Karton, Glas- und Plastikflaschen, Shampoo- und andere Plastikgefäße, Dosen, Zeitungs- und weißes Papier. Was Chucky nicht sammelt sind: Konservendosen, Spraydosen und schon recyceltes Papier – das bringt zu wenig Geld ein, meinte er.

Nach einer Zeit gewöhnt man sich daran Müllbeutel aufzureißen und darin herumzusuchen, auch wenn immer ein gewisses Eckelgefühl bleibt, wenn man zum Beispiel Babywindel oder Essensreste in der Hand hält. Langsam lernte ich die verschiedenen Müllbeutel nach ihren Wert zu schätzen: in Küchenbeutel sind meistens nur Essensabfälle und somit lohnt es sich überhaupt nicht sie aufzumachen. In Bürozimmerbeutel gibt es aber meistens immer weißes Papier, was ja gesammelt wird. Auch entwickelt man nach und nach ein Gefühl für den Müll: hier ist eine Plastikflasche, da eine Zeitung und dort ein Plastikgefäß.
Allen verwertbaren Müll wird in den riesigen Beutel auf den Karren geladen. Den richtigen Müll wird in die Müllsäcke zurückgegeben und wieder sauber an ihren Platz abgestellt. Vielleicht darf Chucky deswegen den Müll von den großen Mietshäusern durchsuchen, weil er so sauber arbeitet, dachte ich mir.
Denn so wie Chucky gesagt hatte, warteten die Portiere der Wohnblocks schon auf ihm, um ihm den Müll abholen zu lassen. Chucky grüßt sie freundlich, schleppt darauf die großen Beutel heraus und trägt sie zur nächsten Kreuzung um diese zu inspizieren. Durch dieses Abkommen mit den Portiers, läuft Chucky nicht Gefahr, dass ihm andere cartoneros zuvor kommen und ihn die wertvollen Schätze klauen.
So zogen wir nun von Haus zu Haus, von Müllbeutel zu Müllbeutel und luden ständig die gefundenen, wertvollen Sachen auf unseren Karren, bis beide Beutel komplett voll waren. Dann zogen wir mit Karren und gesammelten Müll zurück zum Lastwagen, aber nicht ohne die Gelegenheit zu verpassen, bei einem Kiosquo anzuhalten, um sich die Hände zu waschen, eine Cola zu trinken und ein Sandwich zu Essen. Chucky lud selbstverständlicherweise ein.

Für mich war es eine komische Situation, dass ich im Müll wühle und die anderen Leute an mir vorbeilaufen. Normalerweise sehe ich die Szene genau aus der anderen Perspektive. Nun fragte ich mich aber, was sich die Leute denken, wie sie sich fühlen, in welchem Licht sie mich sehen. Ich zumindest bin jedes Mal peinlich berührt, wenn ich cartoneros auf den Straßen von Buenos Aires sehe. Aber ich glaube für die Portenos (Einwohner von Buenos Aires) ist das so ein normaler Anblick, dass sie einfach weg schauen und sich keine Gedanken darüber machen wollen.
Eine Szene fand ich sehr bedrückend. Ein langsam vorbeifahrendes Auto warf eine leergetrunkene Plastikflasche direkt vor die Füße von Chucky und der Fahrer hatte dabei ein breites Grinsen im Gesicht. Chucky bedankte sich höflich und nahm die Flasche. Ich finde, dass man den Cartoneros auch mit Respekt entgegentreten muss

Für mich war dieser erste Tag eine wichtige Erfahrung; ich bin in eine Welt eingedrungen, die ich bisher nicht kannte, und wohl auch nicht für einen „reichen“ Deutschen geschaffen ist. Nun kann ich vielleicht einige meiner Projektkinder besser verstehen.
Ich bin schon gespannt auf die nächsten Tage.

Kalter Herbsteinbruch in Buenos Aires

Freitag, 01. Juni 2007

Zurzeit wird das maritime Klima der Hauptstadt Argentiniens von polaren Kaltluftmassen bestimmt. Dies hat zur Folge, dass bereits im normalerweise milderen Herbst, sehr tiefe Temperaturen erreicht werden.
Als ich vor ein paar Tagen früh um 8.30 Uhr mein Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, bildeten sich weiße Dampfwölkchen vor meinem Mund. Das Thermometer verriet mir den Grund: es hatte zwei Grad unter den Gefrierpunkt. In diesem Moment fühlte ich mich irgendwie sonderlich wohl, fast wie im deutschen Winter. Allerdings habe ich mich auch sehr an die Wärme des argentinischen Sommers gewöhnt und fror deswegen umso mehr.
Ich ließ mir sagen, dass diese Temperaturen die tiefsten sind, die hier erreicht werden und dies sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit ist.

Die Wirtschaft nutzt zurzeit in meinen Augen diese Klimasituation aus, um einen höheren Profit einzufahren. Zum Teil wurden viele Tankstellen nicht mehr mit Gas beliefert, bzw. die Preise für Gas sind rapide angestiegen. Dies hat vor allem für Taxifahrer einen hohen wirtschaftlichen Schaden, da die Taxis in Buenos Aires fast ausschließlich mit Gas betrieben werden.

Aber auch die Industrie selbst wird beeinflusst, da die Energiezufuhr von den großen Firmen reguliert wird. Zum Beispiel konnte General Motors zeitweise nur zwei Stunden am Tag arbeiten, da sie nicht ausreichend Energie zur Verfügung hatte.

Neben dem Taxifahrer sind auch viele öffentliche Gebäude, wie Schule schwer betroffen. Hier sind die Heizung einfach oft ausgeschalten und die Schüler werden in kalten Klassenzimmer unterrichtet. Dies trieb viele Schüler und Lehrer auf die Straße und in letzter Zeit gab es viele Proteste und Straßensperrungen.
Heute wurde ich erst der Zeuge, wie Schüler eine Hauptstraße komplett lahm legten und somit ein großes Verkehrschaos erzeugten. Auf ihren Bannern hatten sie Sprüche wie „Wir wollen eine Heizung“ geschrieben.

Aber auch wir Freiwilligen, hier in Banfield, spüren die Limitation des Gases. In unserem Haus haben wir leider keine fest installierte Heizung. Vielmehr heizen wir die Räume mit einer kleinen Gasheizung, die wir an eine Gasflasche anschließen. Das gute daran ist, dass sie somit mobil einsetzbar ist. Allerdings ist es über längere Zeit nicht wirklich effektiv und durch den Verbrennungsprozess nimmt der Sauerstoff des Zimmers stark ab, was manchmal mit starken Kopfschmerzen endet.
Zahlten wir noch vor ein paar Tage 21 Peso für eine Gasflasche, sind es heute schon fast 28 Peso. Ein extrem rapider Anstieg.
Auch muss man daran denken, dass in 4,6 Millionen Haushalten (bei 36 Millionen Einwohner ist das eine sehr hohe Zahl) die einzige Heizung eine solche mobile Gasflaschenheizung ist. Meist sind diese Haushalte sehr arm, wie zum Beispiel in Villa Fiorito viele Häuser von Projektkinder nur durch diese Heizung betrieben werden. Dieser 20% Anstieg ist ein sehr höhere Ausgabenpunkt, denn wohl nicht alle Familien so leicht wegstecken können. Viele müssen nun wahrscheinlich frieren.

Eigentlich müsste der Staat in solchen Kältesituation den Gasmarkt mit seinen Reserven regulieren. In meinen Augen, hat er aber gerade sein eigentliches Ziel verfehlt.