Um den Fußball in Buenos Aires besser verstehen zu können, muss man ein paar Fakten wissen. Deswegen gebe ich diese kurz wieder:
1.) Fußball ist hier kein Sport, sondern eine Leidenschaft, Fanatismus und Religion. Viele Fans habe das Wappen ihres Clubs ein tätowiert und ein Fan einer anderen Mannschaft, ist gleichzeitig ein Feind. Beim Thema Fußball verstehen die meisten Fans keinen Spaß
2.) Die krassesten Fans werden „Ultras“ genannt.
3.) Sehr viele Leute interessieren sich in Buenos Aires für Fußball, vor allem aber die Jugendlichen in unseren Sozialprojekten. Diese können in Fußballern Idole und Vorbilder finden.
4.) In der argentinischen „Bundesliga“ gibt es 20 Mannschaften und fast alle kommen aus Buenos Aires.
5.) Die zwei großen Clubs in Buenos Aires sind River Plate und Boca Juniors.
Am letzten Sonntag, der 17.09, sind wir zum Spiel von Independiente gegen Lorenzo gegangen. Da sich beide auf dem Platz zwei der Liga befanden, war das Spiel ein Derby. Die Farbe des Club Atletico Independiente (CAI) ist rot.
Als wir zum Stadion von Independiente liefen, wurden wir langsam von rot gekleideten Personen eingehüllt und am Ende war die komplette Straße von ihnen besetzt. Leider konnten wir keine Karten mehr erwerben, da alle ausverkauft waren und wir somit ratlos auf der Straße standen. Plötzlich kamen drei Frauen auf uns zu und meinten, dass sie uns für 20 Peso reinbringen könnten.
Also gingen wir mit ihnen mit. Jeder der drei Frauen hatte einen Behindertenausweis, mit dem sie jeweils eine Person mitnehmen konnten. Somit kamen alle sieben ins Stadion. Ob die Damen wirklich behindert sind, sei dahingestellt.
Jan, der hundertprozentiger Fußballfan ist, beschloss sogleich mit den Ultras einzulaufen. Diese stürmen kurz vor dem Spiel, meist synchron mit den Fußballspielern, ins Stadion und schwingen dabei ihre roten Fahnen. Als Problem sah ich nur das Tor, durch das sie einlaufen wollten: Es war geschlossen und davor standen circa 300 andere Fans. Aber diese Tatsache war den Fahnen schwingenden Ultras egal und alle stürmten zum circa fünf Meter breiten Stadioneingang, welcher mehr oder weniger überrollt wurde. Und mitten drin war ich – mitten drin, statt nur dabei. Spätestens jetzt gab es kein zurück mehr und ein umdrehen war absolut unmöglich. Denn ich wurde von circa 600 Fahnen schwingenden Fans von hinten ins Stadion gedrückt.
Den ersten argentinischen Fußball Schock überstanden, beschloss Jan natürlich gleich mit auf die “Tribüne” der Ultras zu gehen. Also quetschten wir uns alle sieben auf die Stehtribüne auf der circa auf einen m² 50 Fans standen. Auf jeden Fall war es sehr eng.
Hier muss ich eine kurze Erklärung einfügen:
Die Fans in Argentinien trinken keinen Alkohol vor oder während dem Spiel und sind somit absolut nüchtern, was sie aber nicht vom Springen und Singen abhält. Ab und zu stieg mir aber der süßliche Geruch von Marihuana in die Nase, da die Argentinier bei Fußballspielen lieber Cannabis konsumieren, als Bier zu trinken.
Auf jeden Fall schreien die Fans in Argentinien nicht nur “Ole Ole” und “Vor und noch ein Tor”, wie in Deutschland. Viel mehr haben sie ihre eigenen Fangesänge. Es gibt sogar eine Zeitung, die nur Fangesänge abdruckt. Im Stadion wird somit ununterbrochen gesungen und jeder kennt die Lieder auswendig. Bei dem CIA Spiel waren es mehr als zwanzig verschieden Lieder, die unaufhörlich gesungen wurden.
Vor der Tribüne steht immer ein „Einheizer“, der die Menge zum Tanzen und Springen auffordert. Mit der Zeit stimmt die ganze Tribüne mit ein und man merkt, wie der Gesang langsam von links oder rechts auf einen “zurollt”. Das ganze könnte fast als Männerchor durchgehen.
So, war es eben auch bei dem Spiel von CIA: Alle singen und springen. Manchmal endet das Springen damit, dass alle Personen, die auf der Tribüne stehen, um ein paar Stufen nach vorne gedrückt werden. Solange Personen vor dir stehe, die dich auffangen, ist das kein Problem. Aber sobald sich eine Lücke bildet, ist das sehr schmerzhaft.
Ich habe etwa 50% Prozent des Spieles gesehen, da abwechselnd die Sicht von Fahnen, springenden Fans, oder sonstigen Gegenständen versperrt wurde, oder ich um mein Leben kämpfen musste.
Am Ende wusste ich nicht, ob ich das Ganze gut finden sollte, oder nicht.
Das Spiel ging 1:0 für die Gegner aus, was mir ganz Recht war. Denn trotz der Niederlage, sahen es die Fans nicht ein, wieso sie ihre Mannschaft nicht feiern sollten und ich möchte nicht wissen, was los gewesen wäre, falls CIA gewonnen hätten.
Nach dem Spiel sind wir zum Bahnhof gelaufen und haben mit vielen anderen roten Fans auf unseren Zug gewartet, der circa 20 Minuten zu spät kamen. In Argentinien gab es keine zwanzig Sonderzüge, wie in Deutschland. Somit wurde der Bahnhof regelrecht von den Fans, die zum Teil einfach über die Bahngleise liefen, überrannt.
Als dann endlich der Zug kam, wurde er von den roten Fans gestürmt und die Gruppendynamik setzte ein: Im übervollen Zug wurde gesungen, gehüpft, viel Krach gemacht und gegen alles geklopft und gehämmert, was in Reichweite war. Dazwischen drangen hilflose Schreie von Müttern, die versuchten ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Zuerst wunderte ich mich, wieso der Zug nicht los fuhr, später erfuhr ich dann den Grund:
Anscheinend sind die CIA Fans auf eine Hand voll Boca Junior Fans gestoßen, die natürlich die roten Fans reizten. Das ganze endete mit einer großen Verfolgungsjagd der Boca Fans, durch die vielen CIA Fans. Deswegen wurde die Polizei alarmiert, worauf die roten Fans wieder in ihre „Burg“, die Zugstation, sowie auch in den Zug, flüchteten. Dieser wurde dann erst einmal von der Polizei gestürmt und die meisten Personen mussten aussteigen.
Durch das Fenster des Zuges konnte ich am Bahnhof die Polizisten erkennen: Alle hatten dicke Schutzwesten an und geladene Schrotflinte im Anschlag. Plötzlich fiel am Bahnhof ein Schuss. Ich weiß bis heute noch nicht, was genau passiert ist.
Ironischer weise wurde im Jahr 2002 auf derselben Station, Maxi und Dario, die auf einer friedlichen Demonstration waren, von der Polizei erschossen. Das war ein historisches Ereignis in Argentinien und die Leute versuchten danach die Stadion in Dario und Maxi umzubenennen, was aber scheiterte. Heute sind alle Bahnhofsschilder übermalt und überall kann man die zwei Namen lesen: Dario und Maxi.
Am Ende hat dann die Polizei auch unser Abteil gestürmt und es wurde laut geschrien. Alle sollten sich auf den Boden setzen und (fast) alle taten es auch. In vielen Gesichtern stand die Angst geschrieben. Jetzt weiß ich, wie ein Mensch aussieht, der unendliche Angst ausstehen muss. Neben mir waren zwei junge Frauen, die sich in ihre Sitze vergruben.
Am Ende war ich nur noch froh, dass der übervolle Zug los fuhr.